KOOPERATION & art-lab 2024
guilt & shame
Platform TU Mariupol und bridgeworks gehen 2024 in einen Prozess des ukrainisch-deutschen Kulturaustauschs: Gemeinsam untersuchen wir den Themenkomplex „guilt & shame“. Dazu initiieren wir verschiedene transkulturelle Netzwerk- und Dialogformate sowie künstlerische Koproduktionen.
bridgeworks arbeitet als transkulturelles Kollektiv jährlich bzw. überjährig in wechselnder Konstellation mit Künstler:innen aus verschiedenen Orten der Welt und aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu je einem gemeinschaftlich ausgewählten übergreifenden Thema.
art-lab 2024
Wie in jeder Kooperation starten wir mit einem gemeinsamen art-lab, einem internationalen Begegnungslabor und Crossover der Genres: Im art-lab gehen rund 20 Künstler:innen mit unterschiedlichen kulturellen Identitäten und kreativen Schwerpunkten in eine intensive künstlerische Forschungs- und Austauschphase.
Das art-lab ist als produktionsungebundenes Format an der Schnittstelle zur Wissenschaft angelegt: Durch Key Notes internationaler speaker:innen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen (Soziologie, Politik, Psychologie etc.) eröffnen wir neue Perspektiven auf das Thema "guilt & shame".
Das art-lab zielt darauf ab, das Netzwerk der Teilnehmenden zu erweitern und transkulturelle Kompetenzen sowie interdisziplinäre Fähigkeiten zu vermitteln. Der Prozess bezieht lokale Multiplikator:innen und Formate des Wissenstransfers mit ein – und mündet in der Regel in ein öffentliches Showing.
Das art-lab ist nach dem Prinzip der fair cooperation als je zweiwöchiges Konzept (zwei Wochen in Deutschland, zwei Wochen am Ort unserer Kooperationspartner:innen) angelegt und findet in englischer Sprache statt.
Wir glauben, dass nur im Dialog Erkenntnis liegt und sich dadurch ein künstlerischer Mehrwert und ein Ausgangspunkt für gemeinsame künstlerische Prozesse und Projekte entwickeln kann.
Jahresthema 2024: Schuld & Scham
Schuld und Scham – zwei mächtige und komplexe Emotionen, die tief in unserer menschlichen Psyche verwurzelt sind, unser Handeln, unsere Entscheidungen, unsere persönliche Verortung und unsere Beziehungen zueinander und zur Welt definieren. Sowohl individuell als auch kollektiv scheint dieses Emotionspaar seine Wirkmacht zu entfalten und uns weitreichender zu beeinflussen als es auf den ersten Blick erscheint.
Vermeintlich begeben wir uns mit dieser Schwerpunktsetzung auf eine sehr psychologische und persönliche Spurensuche. Aber hat nicht auch gerade die öffentliche Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und Deutschland offenbart, dass persönlich empfundene Unterschiede und Gemeinsamkeiten ihren Ursprung oft in kulturspezifischen Wertevorstellungen und historisch bedingten Befindlichkeiten haben?
Spurensuche zwischen Kollektiv & Individuum
Sowohl das kollektive Schuldempfinden über die historischen Verbrechen der Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus als auch die Scham, die viele Ukrainer:innen derzeit empfinden, wenn sie aus dem „sicheren“ Exil die Nachrichten über das Kriegsgeschehen in ihrer Heimat verfolgen, können als Indiz verstanden werden, dass Schuld und Scham weit mehr als individuelles Empfinden kennzeichnen.
In der psychologischen Forschung spielt dieses Emotionspaar eine zentrale Rolle, insbesondere wenn es darum geht, individuelles und gruppenspezifisches Verhalten, soziale Interaktion und kulturelle Normen zu verstehen. Was aber in einer Kultur als schändlich oder schuldhaft angesehen wird, kann in einer anderen als akzeptabel oder gewollt verstanden werden. Um in einen künstlerischen Dialog zu treten, sollten wir daher unseren kulturspezifischen Wertekompass ebenso hinterfragen wie unsere jeweiligen historischen Bezugspunkte und politischen Rahmenbedingungen.
Aber wo verorten wir uns eigentlich persönlich in diesem Spannungsfeld zwischen Kollektiv und Individuum? Wieso empfinden wir überhaupt Scham über die Schuld, die andere zu verantworten haben oder hatten? Wenn es denn gilt, dass geteiltes Leid halbes Leid bedeutet – verhält es sich mit der Schuld ebenfalls so? Und falls dem so ist, verpflichtet uns diese Tatsache nicht dazu, zu handeln oder zumindest eine Haltung zu beziehen?
Unsere Partner:innen: TU Mariupol
Das an das Netzwerk TU Mariupol angekoppelte Kulturzentrum Platform TU wurde 2016 in Mariupol, der östlichsten Stadt der Ukraine, von Menschen geschaffen, die vor dem Krieg flüchteten und gemeinsam anfingen, durch kulturelle Aktivitäten gegen den Krieg zu kämpfen. Die Initiative fördert Menschenrechte und Freiheit durch Kultur und zeitgenössische Kunst und das kritische Denken zu Themen wie Geschlechterungleichheit, Diskriminierung, Rechtsradikalismus, Paternalismus, Flüchtlinge und totalitärer Propaganda.
Bereits vor dem 24. Februar 2022 haben wir Gespräche mit Diana Berg, Gründerin des Kulturzentrums Platform TU in Mariupol, geführt. Gemeinsam entwickelten wir erste Ideen, wie eine deutsch-ukrainische Kooperation aussehen könnte. Die ab Ende Februar folgenden Ereignisse sind uns allen bekannt. Derzeit befinden sich die ukrainischen Künstler:innen an unterschiedlichen Orten in der Ukraine, in angrenzenden Ländern und in Deutschland.
Künstlerisches Leitungs-Tandem
Diana berg
...ist Kuratorin, Aktivistin, Künstlerin. Sie hat maßgeblich die Protestbewegung Donezk in der Ukraine mitorganisiert und ist – als ihre Heimatstadt von Russland besetzt wurde – 2014 nach Mariupol geflohen. Zwei Jahre später gründete sie die Platform TU, das Zentrum für sozialen Wandel und die Förderung menschlicher Freiheiten durch Kunst und Kultur und arbeitete als Kuratorin des Raums, bis Russland die Stadt angriff. Sie überstand die Belagerung und zog nach Kyjiw. 2019 wurde sie vom ukrainischen Parlament mit der Staatsmedaille für Verdienste um das ukrainische Volk ausgezeichnet. Im Juli 2022 koordinierte sie das ukrainische Programm auf der Documenta 15 in Kassel.
felix banholzer
...ist Regisseur, Performer, Kulturmanager und Gründungsmitglied von bridgeworks. Er studierte Schauspiel an der Staatlichen Schauspielschule Stuttgart, Theaterregie an der Erasmushogeschool Brussel und Kultur- und Medienmanagement an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Seit 2013 arbeitet er freiberuflich als Theatermacher und Künstler mit einem Fokus auf transkulturelle Projekte in unterschiedlichen Konstellationen und Genres. (u.a.: “WHAT THE FUCK”, “fiction&just&fication”, “paralyse”, “…you me and the end of everything”, “refugee walk“, “wohnen.unter.glas”).
Positionierung
Hinsichtlich des verachtenswerten russischen Angriffskriegs auf die Ukraine positioniert sich bridgeworks klar gegen den Aggressor und verurteilt die russische Invasion aufs Schärfste. bridgeworks steht im Schulterschluss an der Seite unserer ukrainischen Partnerinstitutionen, Künstler:innen und Freund:innen. Mit der Partnerkultur Ukraine wird bridgeworks 2024 zur Begegnungs-Plattform und Sprachrohr ukrainischer Stimmen und setzt dadurch ein deutliches politisches Signal: Solidarität!
Wir stehen vor der Herausforderung, Schuld und Scham im Kontext des russischen Angriffskrieges zu analysieren, zu verstehen und proaktiv in künstlerische Projekte zu übersetzen. Explizit interessieren uns Fragen nach der Schuldzuschreibung, Gerechtigkeitund der Rechtsprechung in der aktuellen Situation. Wie steht es um das Völkerrecht und die internationale Rechtsstaatlichkeit? Welche Instanzen können Schuldige überhaupt zur Verantwortung ziehen? Wie können wir mit den zahllosen Kriegsverbrechen künstlerisch umgehen? Kann die dokumentarische künstlerische Arbeit Relevantes dazu beitragen, konkrete Sachverhalte klären oder in einer zukünftigen Aufarbeitung als Material herangezogen zu werden? Welchen Mehrwert kann eine deutsche Perspektive als „Beisteher“ eines Krieges darstellen, welche über ein schambehaftetes Mitgefühl hinausgeht?
Ist es nicht die Pflicht von Kulturschaffenden und Künstler:innen, genau an dieser Stelle hinzuschauen und neue Perspektiven zu ermöglichen? Oder kann Kunst als Form der Interpretation und Verfremdung in diesem Fall nur in Verbindung mit aktivistischen und journalistischen Formaten legitim sein? Ausgehend von diesen Fragestellungen beginnen wir unsere Recherchen bei uns selbst.
Impressionen art-lab Berlin, 14.-28. April 2024
Gefördert durch die Stiftung West-Östliche Begegnungen.
Fotos: Mirko Borscht
art-lab 2024
Projektphase 1:
14.-28. April 2024
Hotel Continental – Art Space in Exile, Berlin
www.artspaceinexile.org
Projektphase 2:
13.-21. Dezember 2024
Tbilissi, Georgien
in Partnerschaft mit Arts Research Institute of Georgia (ARI)
speaker:innen Berlin
-
Leonhard Menges (Universität Salzburg): "Moral Philosophy on Guilt & Shame"
-
Elisabeth Vanderheiden (CEO Global Institute for Transcultural Research): "Shame as a Ressource"
-
Katya (Vitsche Berlin): Diskussion über ukrainische Proteste
-
Zenia Molyar (Kunstkritikerin, Mitglied der Initiative DE NE DE und Koordinatorin „Soviet Mosaics in Ukraine”): "Cultural Heritage"
-
Christin Lüttich (u.a. about:change e.V.): "Justice & Powerstructures"
-
Inga Pylypchuk (Journalistin & Regisseurin): "Documentary Art"
-
Heike Winkel (Kulturwissenschaftlerin): "German/Sowjet Guilt"